Faszinierende Kristalle: Vielfalt hinter Gittern

2022-10-22 19:51:45 By : Ms. caroline Huang

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17.10.2018 · Wenn Materie fest wird, dann bildet sie oft Kristalle. Hinter ihrem Formenreichtum steckt eine verblüffende Einfachheit.

I n dicken Girlanden hingen die Kristalle von Decke und Wänden. Zumeist waren es faserige, moosige oder farnhafte Gebilde in glitzerndem Weiß. Dazwischen gab es aber auch Massen glasklarer Plättchen, manche handtellergroß, sowie bizarre kelchartige Formen in der Art gestufter Schnecken, in denen sich nun das Licht unserer Handlampen brach. Berührte man nur irgendetwas davon, rieselte es unter ätherisch hohen Klirren und Klingeln auf einen herab. Es war, als hätten wir das Schloss der Eiskönigin betreten.

Nur lag dieser verwunschene Ort nicht im hohen Norden, sondern am anderen Ende der Welt. Die deutsche Antarktis-Station „Neumayer II“ auf dem Ekström-Schelfeis an der Küste von Queen Maud Land war im Januar 2009 aufgegeben worden, sechs Jahre vor unserem Besuch. In dieser Zeit war die Temperatur in den zurückgebliebenen stählernen Tunneln, die mittlerweile unter 16 Meter Schnee lagen, bei konstant -15°C geblieben. Zudem gab es fast gar keine Luftbewegung. So konnten die Wassermoleküle der spärlichen antarktischen Luftfeuchtigkeit sich sehr langsam zu großen Kristallen ablagern, deren Eigentümlichkeit man ihnen sofort ansah. In welchen Formen und Größen sie da auch wuchsen – alle waren sie sechseckig.

Die Kristalle von Wassereis sind hexagonal – nach dem griechischen Wort für „sechseckig“. Andere kristalline Stoffe können anderen Mustern folgen, aber die Auswahl ist erstaunlich klein. Denn Kristalle sind Festkörper, in denen die sie aufbauenden Atomgruppen regelmäßige Gitter bilden. Das heißt, sie bilden darin jeweils eine kleinste geometrische Struktur, die sogenannte Elementarzelle, die sich immer wiederholt und dabei den gesamten Kristallkörper lückenlos ausfüllt wie Fliesen eine Badezimmerwand. Zumindest dann, wenn der Kristall absolut rein und perfekt gewachsen ist. Doch egal, mit welchen Stoffen, welchen chemischen Elementen oder Molekülen man es zu tun hat: fast alle Kristalle bauen sich aus einer von nur 14 verschiedenen Elementarzellen auf, die sich den sieben auf dieser Seite vorgestellten sogenannten Kristallsystemen zuordnen lassen. Mehr Möglichkeiten zum Kristallisieren gibt es in der Regel nicht, jedenfalls nicht in einer Welt mit drei Raumdimensionen. Das hat 1848 der französische Naturforscher Auguste Bravais (1811-1863) streng mathematisch bewiesen. Nach ihm heißen die 14 Gittertypen „Bravais-Gitter“.

Trotz dieser doch recht übersichtlichen Grundlage erfreuen sich Mineralogie und Kristallographie einer üppigen Formenvielfalt ihrer Gegenstände. Rein äußerlich schon dadurch, dass die sieben Kristallsysteme nur die Grundformen liefern, die dann je nach Wachstumsbedingungen der Kristalle variiert werden. So definiert etwa das kubische System eine Würfelform. Und tatsächlich sehen einige kubische Minerale – etwa Steinsalz oder der in Museumsshops gerne feilgebotene Pyrit – oft tatsächlich wie Würfel aus. Doch können kubische Minerale beispielsweise auch so kristallisieren, dass den Würfeln die acht Ecken so tief gekappt sind, dass das Ergebnis eher nach einem Oktaeder („Achtflächner“) aussieht. Zudem können Kristalle, wie in den Eistunneln von Neumayer II, zu verschiedenen Größen reifen. Und nebeneinander kristallisierende Körper können zusammenwachsen. Solche Effekte sind der Grund dafür, warum die hier abgebildeten Kristallproben mit freiem Auge meist nicht so einfach mit der Gestalt der ihr zugrundeliegenden Elementarzellen zusammenzubringen sind.

Welches Gitter ein Kristall besitzt, hängt von den chemischen Eigenschaften des Stoffes ab, der da kristallisiert. Bravais’ Theorem schränkt die Möglichkeiten der Kristallchemie, sich geometrisch auszudrücken, zwar empfindlich ein, und von den knapp 90 natürlich vorkommenden chemischen Elementen ist nur ein kleinerer Teil häufig genug, um sich nennenswert an der Bildung von Kristallmassen und den daraus zusammengesetzten Gesteinen zu beteiligen. Dennoch gibt es auf unsrem Planeten von Natur aus an die 5000 verschiedene Minerale.

„Zwei verschiedene Minerale unterscheiden sich erstens durch die chemische Zusammensetzung, zweitens durch die Kristallstruktur. In der Regel durch beides, es genügt aber auch eines“, erläutert Rupert Hochleitner, Hauptkonservator an der Mineralogischen Staatssammlung in München. „Minerale können aber selbst ausgesprochen vielfältig sein. Man schaue sich nur das Calcit an!“ Tatsächlich findet sich in den Vitrinen des Museums, in dem die Staatssammlung in der Münchner Theresienstraße einen kleinen Teil ihrer Schätze zeigt, sehr verschiedene Exemplare trigonal kristallisierenden Calciumcarbonats, eben des Calcits. Gewöhnlicher Kalkstein besteht oft aus Calcit, doch Marmor ebenso. Calcitkristalle können blättrigen „Papierspat“ bilden, aber auch klare Blöcke aus „Doppelspat“, die hindurchtretendes Licht in zwei senkrecht zueinander polarisierte Komponenten aufspalten. „Calcit ist das Mineral mit der größten Anzahl von Kristallformen und Kristallkombinationen auf der Welt“, sagt Hochleitner. „Es sind weit über zweitausend.“ Augenfällig ist aber auch die Vielfalt beim trigonal kristallisierenden Siliciumdioxid, besser bekannt als Quarz. Dessen wohl berühmteste Varietät ist der Bergkristall. In der Antike war er der Inbegriff alles Kristallinen. Mehr noch: „Krystallos“ bezeichnete bei Griechen und Römern meist nur den Bergkristall. In dem Wort stecken das Adjektiv „kryos“, also „kalt“, und das Verb „stéllein“, was unter anderem „zusammenpacken“ bedeuten kann. So schrieb Plinius der Ältere um das Jahr 77 n. Chr.: „Der Bergkristall bildet sich bei ziemlich strengem Frost. Gewiss findet man ihn nur dort, wo im Winter die Schneemassen extrem starr frieren, und es ist sicher, dass es sich um Eis handelt, daher sein griechischer Name.“

„Da war man also der Meinung, der Bergkristall sei Eis, das so stark gefroren ist, dass es nicht mehr schmelzen kann“, sagt Hochleitner. Und obgleich man damals andere augenscheinlich kristalline Stoffe durchaus kannte – Smaragde etwa oder vulkanischen Schwefel –, sah man noch nicht das gemeinsame Phänomen. Dabei blieb es bis tief in die Neuzeit hinein. Die Weltkugel war schon mehrfach umsegelt worden, Johannes Kepler hatte längst die letzten Zweifel daran ausgeräumt, dass sich die Erde um die Sonne dreht, und Isaak Newton der aristotelischen Naturphilosophie insgesamt den Garaus gemacht – da glaubte selbst ein empirisch so versierter Naturforscher wie der Schweizer Johann Jakob Scheuchzer (1672 bis 1733) noch immer an die Pliniussche Theorie vom Bergkristall. Das änderte sich erst mit Scheuchzers Schüler Johann Heinrich Hottinger und seinem Werk „Krystallologia seu dissertatio de crystallis“, das 1698 erschien. Bergkristalle seien keineswegs nur zu finden, wo Berge mit Schnee bedeckt sind, schrieb Hottinger. „Er war auch der Erste, der erkannte, dass es auch andere Materialien gibt, die auch den Namen Kristall verdienen“, sagt Hochleitner.

Chemiker und Kristallographen konnten später zeigen, dass es neben dem Bergkristall noch weitere Spielarten, sogenannte Varietäten des einen Minerals Quarz gibt. Dem Rauchquarz etwa sieht man die Verwandtschaft mit dem Bergkristall noch unmittelbar an, er unterscheidet sich nur durch die Färbung, die aber nicht etwa von Verunreinigungen herrührt, sondern durch Einwirkungen ionisierender Strahlen aus radioaktiven Elementen im umgebenden Gestein. Die Radioaktivität erzeugt dabei Defekte im Kristall, sogenannte Farbzentren, welche die optischen Eigenschaften des Gitters verändern. Bestrahlt man Bergkristalle in einem Kernreaktor, kann man sie damit auch pechschwarz färben.

„Auch der Amethyst ist ein Quarz“, sagt Rupert Hochleitner. „Nur eben ein violetter.“ Für die Farbe dieser Varietät wirken jedoch zwei Effekte zusammen. Zum einen enthält Amethyst geringe Spuren zweiwertigen Eisens. „Die ersetzen an manchen Stellen das Silicium und erzeugen so ein Farbzentrum, allerdings eines, das in dem Wellenlängenbereich, in dem unsere Augen empfindlich sind, nichts bewirkt“, sagt Hochleitner. „Wird der Kristall aber bestrahlt, dann aktiviert dies das Farbzentrum.“ Das Material absorbiert nun einen Teil des sichtbaren Lichts und lässt einen anderen, eben den violetten, hindurch. Fortgesetzte Bestrahlung mit ultraviolettem Licht kann die Farbzentren allerdings wieder zum Verschwinden bringen. Amethyst, der längere Zeit an der Sonne liegt, bleicht daher aus. „Bei den schönen braunen und blauen Topasen ist dieser Effekt aber noch viel eklatanter“, weiß Hochleitner.

Auch Rosenquarz, eine weitere Varietät von trigonalen SiO2, sollte man nur hinter UV-undurchlässigen Vitrinenscheiben ausstellen. Allerdings besteht die Ausbleichgefahr nur für die seltene durchscheinende Variante. Der billige trübe Rosenquarz, ebenfalls ein beliebtes Souvenir aus dem Museumsladen, erhält seine Färbung durch eingelagerte submikroskopisch dünne Fasern des purpurnen Minerals Dumortierit. Die Fasern sind so winzig, dass sie sich erst unter einem Elektronenmikroskop offenbaren.

Auf der anderen Seite der Größenskala sind dem Kristallwachstum nur durch die Zeiträume Grenzen gesetzt, während der sie – wie in den Tunneln von Neumayer II – unter gleichbleibend günstigen Bedingungen kristallisieren können. Den Rekord halten hier Kristalle in einer Höhle der Erzmine Naica im mexikanischen Bundestaat Chihuahua. Mehrere hunderttausend Jahre hindurch muss dort eine Magmakammer calciumsulfathaltiges Wasser auf einer konstanten Temperatur von knapp unter 58 Grad Celsius gehalten haben, bis Minenaktivitäten schließlich zum Abfluss des Wasser führten. Als Bergleute die Höhle im April 2000 entdeckten, stießen sie dort auf gigantische Nadeln aus Selenit, einer Varietät des aus wasserhaltigen Calciumsulfat bestehenden Minerals Gips. Die größten dieser Kristalle sind über zwölf Meter lang und wiegen mehr als fünfzig Tonnen. Wie aber eine kürzlich in der Fachzeitschrift Crystal Growth & Design erschienene Studie berichtet, sind die Giganten nun in Gefahr: An der Luft verlieren sie Kristallwasser und könnten sich daher mit der Zeit auflösen. Für einen Mineraltourismus wäre „Cueva de los Cristales“ allerdings ohnehin nicht geeignet: Bei 55 Grad Raumtemperatur und 100 Prozent Luftfeuchtigkeit ist ein Besucher ohne Spezialausrüstung nach zehn Minuten in Lebensgefahr. Seine Lungen wären der kühlste Ort der Höhle, und genau dort würde die Feuchtigkeit kondensieren. Kehrt man dann nicht sofort um, ertrinkt man innerlich.

Es gibt aber Mineralienfreunde, die auch vor solcher Gefahr nicht zurückschrecken. Für manche Menschen sind Kristalle eine Leidenschaft, mit dem Nebeneffekt, dass der Handel von seltenen oder besonders ansehnlichen Exemplaren ein eigener Wirtschaftszweig geworden ist. Der zieht dann natürlich nicht nur ehrbare Marktteilnehmer an. Etwa, wenn es um eine weitere Quarzvarietät geht, die gelben bis braunen Citrine, die ihre Farbe Spuren dreiwertigen Eisens verdanken. „Natürlicher Citrin ist ausgesprochen selten und sehr teuer“, sagt Rupert Hochleitner. „Man kann allerdings trickhaft Amethyst brennen, also über 500 Grad erhitzen.“ Das oxidiert das zweiwertige Eisen zu dreiwertigem, und aus dem violetten Quarz wird ein brauner. „Es gibt Betrüger, die Ihnen so was dann als Citrin verkaufen.“ Weniger kriminell, aber immer noch grenzwertig ist die Praxis der Phantasienamen: „Man nimmt den nächstwertvolleren, farblich ähnlich aussehenden Edelstein und benennt ihn nach diesem. Der hier nächstwertvollere, sogar sehr viel wertvollere ist der Topas“, erklärt Hochleitner. „Aber ,Topas‘ alleine wäre schon recht betrügerisch, also geht man her und nennt das ,Quarztopas‘. Das klingt dann gut, ist aber halt doch nur Quarz.“

Die weitaus meisten synthetischen Minerale werden heute aber für ganz legale und honorige Zwecke hergestellt. Natürliche Rubine oder Bergkristalle etwa gibt es gar nicht in den Mengen und Qualitäten, die man in der modernen Industrie benötigt. Der Laser zum Beispiel konnte erst erfunden werden, nachdem es gelang, geeignete Rubine künstlich zu züchten. Allein an synthetischem Bergkristall werden heute jedes Jahr mehrere tausend Tonnen produziert. Die Industriemineralogie arbeitet heute auch mit Mineralien, die es in der Natur gar nicht gibt. Ein bekanntes Beispiel ist das Material, das die Firma Schott in Mainz für Kochfelder von Elektroherden entwickelt hat. „Man sagt zwar ,Ceranglas‘, aber das ist gar kein Glas“, sagt Hochleitner. Denn Gläser sind amorph, das heißt, sie haben gar keine Gitterstruktur. „Im Ceran hat man mehrere Kristallsorten kombiniert, von denen die einen negative, die anderen positiven Ausdehnungskoeffizienten haben. Und weil die Kristalle so klein sind, gibt es bei Hitzeeinwirkung keine Sprünge.“

Die moderne Materialwissenschaft betreibe ein „Kristall-Design“, erklärt Hochleitner. Dabei schaue man durchaus noch danach, was es in der Natur schon an Strukturen und Eigenschaften gibt. Das sei dann auch einer der Zwecke einer staatlichen Mineraliensammlung wie der in München, die mehr als 100.000 Mineralproben verwahrt, daran selbst forscht, sie aber vor allem Universitäten und Industrie zu Forschungszwecken zur Verfügung stellt. Als ein Paradebeispiel nennt Hochleitner hier das Mineral Triphylin, ein rhombisch kristallisierendes Lithium-Eisenphosphat, an dessen Erforschung die Münchner Sammlung beteiligt war. „Triphylin wird heute in großen Mengen als Kathode in Lithium-Ionen-Akkus verwendet. Da nimmt man natürlich nicht das natürliche Mineral, das in diesen Mengen gar nicht vorkommt. Stattdessen stellt eine Firma in Kanada jedes Jahr 50.000 Tonnen davon her. Doch die ganzen Grunduntersuchungen wurden an natürlichem Material gemacht.“ Denn während Menschen erst seit etwa 300 Jahren wissen, was ein Kristall ist, experimentiert die Natur mit ihren 14 Gittertypen schon seit Jahrmilliarden.

K ristallgitter sind Gitter im Raum. Geht so etwas auch in der Zeit? Zeitkristalle in diesem Sinne wären also nicht etwa eine irgendwie kristallisierte Zeit, sondern durchaus materielle Gebilde, welche genau das in der Zeit realisieren, was bei Kristallen in räumlicher Hinsicht der Fall ist: dass sich Strukturen in gewissen, konstanten Abständen wiederholen.

Klar gibt es so etwas, werden viele nun sagen. Das sind eben Vorgänge, die sich in konstanten Zeitabständen wiederholen, periodische Prozesse also, und dergleichen kennt man doch reichlich: Jede tickende Uhr wäre demnach ein Zeitkristall, jeder kreisende Planet, jedes schlagende Herz.

Doch Physiker können solchen Wortgebrauch schlecht gelten lassen. Denn in räumlichen Kristallen kommt neben der Periodizität noch etwas hinzu, das bei Uhren oder Herzen nicht gegeben ist: Ihr periodisches Gitter ist der Zustand mit der niedrigsten Energie, der Grundzustand. Man muss keine Energie zuführen, damit ein Kristallgitter ein Kristallgitter bleibt. Uhren oder Herzen oszillieren dagegen stets unter Energieverbrauch, und selbst Planeten verlieren beim Kreisen stetig etwas Energie, und sei es nur durch die Abstrahlung extrem schwacher Gravitationsstrahlen. Außerdem sind das alles komplexe, zusammengesetzte Gebilde und nicht das, was Physiker fundamentale Materiezustände nennen würden. „Wenn etwas komplex ist, dann ist das Chemie oder Biologie“, sagt der Physik-Nobelpreisträger Frank Wilzcek vom Massachusetts Institute of Technology (MIT), „aber keine Physik.“

Im Prinzip einfach (und daher Physik) ist das Modellsystem, das Wilczek 2012 veröffentlichte und das sowohl eine Periodizität in der Zeit zeigt als auch dabei zugleich im Grundzustand bleibt. Ließe sich etwas Derartiges im Labor realisieren, hätte man einen Zeitkristall. Der Schluss war aufsehenerregend, denn dies würde auf eine spontane Brechung der sogenannten Zeittranslationssymmetrie hinauslaufen: Wo diese Symmetrie intakt ist, ändert sich die Physik eines Vorganges nicht, wenn man sie statt jetzt ein Zeitintervall später betrachtet. Sie ist eine der wichtigsten Symmetrien überhaupt. Wie die deutsche Mathematikerin Emmy Noether 1918 bewies, ist sie der Grund hinter dem Satz der Energieerhaltung, und obendrein ist sie eine Möglichkeitsbedingung empirischer Wissenschaft: Sie stellt sicher, dass aus einer Beobachtung jetzt auch etwas Richtiges über die Welt zu einem späteren Zeitpunkt gefolgert werden darf. Dies ist nun durch Wilzceks Theorie nicht gefährdet, denn in seinem Modell ist die Symmetrie nicht abwesend, sondern nur gebrochen. Das ist wie beim Auskristallisieren eines Salzes im räumlichen Fall: Zunächst gibt es nur die Salzlösung, in der keine Raumrichtung irgendwie besonders ist. Es herrscht sichtlich Symmetrie. Nach der Kristallation aber sind plötzlich bestimmte Richtungen ausgezeichnet, nämlich die entlang der Gitterebenen des entstandenen Salzkristalls. Genau so kommt es in Wilzceks Modellsystem spontan zu Auszeichnung bestimmter diskreter Abschnitte in der Zeit, wenn ein System spontan zu pulsieren beginnt. Für alles, was mit dem System zu tun hat, sind nun nicht mehr alle Zeitpunkte gleich, denn die Pulse markieren einzelne als besonders – die Zeittranslationssymmetrie ist gebrochen.

Wilczeks Kollegen blieben indes ungläubig. Ein Stück weit zu Recht, denn 2015 bewiesen zwei Theoretiker der Universitäten in Berkeley und Tokio in voller Strenge, dass aus keinem System im Zustand niedrigstmöglicher Energie ein Zeitkristall werden kann. Allerdings ließ der Beweis ein Schlupfloch: Er galt nur für Systeme, die schon ein Gleichgewicht erreicht hatten – etwa wie ein See, in den Bäche genauso viel Wasser hineinfließen lassen wie andernorts abfließt, so dass sich sein Wasserspiegel nicht ändert. Für Systeme, die sich nicht im Gleichgewicht befinden – analog zu Seen, deren Spiegel ständig schwankt –, war die Bildung von Zeitkristallen jedoch nicht ausgeschlossen. Es dauerte kein Jahr, da nutzten andere Forscher dieses Schlupfloch und zeigten, dass ein System interagierender Quantenteilchen, denen zudem ein gewisses Maß an Unordnung zu eigen ist, spontan ein periodisches Verhalten an den Tag legt, wenn man es durch fortgesetztes Anschubsen mit einem Laser davon abhält, ins Gleichgewicht zu kommen. Das wäre dann zwar kein autonomer Zeitkristall im Sinne von Frank Wilzceks ursprünglicher Idee, doch da der Takt des Systems nicht mit dem des anschubsenden Lasers identisch ist, sondern sich spontan ein davon verschiedener Takt einstellt, wird der durch das Anschubsen bereits äußerlich verletzten Zeittranslationssymmetrie ein zusätzlicher Bruch verliehen. Das reicht den meisten Physikern, um das Ganze einen Zeitkristall zu nennen.

Nur ein weiteres Jahr später wurde die Theorie durch gleich zwei verschiedene Laborexperimente bestätigt, die beide im März 2017 in Nature veröffentlicht wurden. Einer Gruppe um Christopher Monroe von der University of Maryland gelang es, eine Reihe aus zehn interagierenden Atomen des Elements Ytterbium spontan in eine Schwingung zu versetzen, die auch dieselbe blieb, als man die Anschubsfrequenz etwas änderte – ganz so, wie ein räumlicher Kristall seine Gitterstruktur nicht dadurch ändert, dass man ihn etwas staucht. Und wie bei einem räumlichen Kristall darf man es damit nicht übertreiben: Verlässt die externe Frequenz einen gewissen Bereich, kehrt die zuvor gebrochene Symmetrie zurück. Das System beginnt sich dann ganz dem Takt zu fügen, der es anschubst – der Zeitkristall schmilzt.

Die zweite Gruppe um Michail Lutkin in Harvard realisierte einen Zeitkristall an einem völlig anderen System, bestehend aus einer Million Stickstoff-Atomen in einem Diamantgitter, angeschubst mit Mikrowellen. Damit ist die Physik um einen neuen Effekt reicher, und die beteiligten Forscher werden nun immer wieder gefragt, was man mit den Zeitkristallen denn praktisch anfangen könne. Frank Wiczek hat darauf eine ehrliche und eine halbehrliche Antwort. „Die halbehrliche, die ich den Journalisten gebe, ist, dass Zeitkristalle prima Taktgeber für Quantencomputer abgeben könnten.“ Denkbar wären für ihn auch Anwendungen in hochempfindlichen Sensoren, etwa für Magnetfelder. „Doch meine ehrliche Antwort ist: Ich weiß es nicht.“

Faszinierende Kristalle: Vielfalt hinter Gittern

Wenn Materie fest wird, dann bildet sie oft Kristalle. Hinter ihrem Formenreichtum steckt eine verblüffende Einfachheit.

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